„Eine Waffe ist immer geladen“. So hab ich die Regel vor gefühlten Ewigkeiten auf dem Kurs Pistole 1 von Henning Hoffmann gelernt. Das ist die wörtliche Übersetzung der „4 rules of gun safety“ nach Col. Cooper, liebevoll auch „der Papst“ genannt.
Nun bin ich Informatiker. Mit Informatiker-Freunden. Leute halten uns für anal-retentive (oder höflicher: detailverliebte) Haarspalter. Kann man schwer was gegen sagen, denn genau dafür werden wir bezahlt. Wir arbeiten eben mit präziser Sprache. Als ich diese Regel bei einem Kumpel erwähnte, sagte der sofort „das ist Quatsch“ (klingt besser als „das ist einfach zu falsifizieren durch einen Beobachtungssatz“). Isses auch. Ich hab hier gerade eine Waffe rumliegen, die ist nicht geladen. Hab die vorhin auf ein Ziel an meiner Wand gehalten und abgedrückt, hat Klick gemacht, nicht Bumm.
Klar, die hab ich leer aus dem Waffenschrank genommen und vor dem Trockentraining überprüft. Pragmatische Menschen zucken jetzt einfach mit der Schulter und schlagen eventuell zur Güte vor, lieber „Behandle jede Waffe, als wäre sie geladen“ zu sagen. Und damit geraten sie in eine der ältesten Diskussionen der modernen Waffengeschichte. Warum?
Wenn die Partei sagt, dass 2 + 2 = 5 ist…
Als Greg Morrison mit Cooper zusammen das Handbuch der „Modern Technique“ 1991 herausgab, schrieb er sinngemäß „Alle Waffen sind immer geladen“ und „sagt niemals ‚behandle eine Waffe, als wäre sie geladen‘, denn das ist eine zu schwache Formulierung“. Und damit haben wir den Mist.
Ich halte davon nichts. So blind angewandt verstößt die Regel gegen den gesunden Menschenverstand: Das geht so weit, das manche Schießlehrer ihre Waffe entladen, offen hinhalten, fragen „ist die Waffe geladen?“ und erwarten, dass jemand sagt „eine Waffe ist immer geladen“. Kein Witz. Das ist keine Didaktik, das ist Hirnfickerei. Je nach Generation bietet sich hier Star Trek oder 1984 als Illustration an.
Eine Regel, die offensichtlich falsch ist zu lehren, erschüttert das Vertrauen in alle Regeln, denke ich. Zumindest bei denkenden Menschen. (Allerdings leben wir in einer Welt voller dummer Regeln und trotzdem halten sich die meisten an sie. Vielleicht hab ich also unrecht. Eventuell ist Gell-Mann-Amnesie eine Technik unseres Gehirns, damit wir trotzdem nicht wahnsinning werden.)
Bringt die strengere Formulierung denn trotzdem was? Einige Ausbilder scheinen das zu glauben. Mein persönlicher Eindruck ist aber, das dieser Satz in erster Linie dann gebetsmühlenartig wiederholt wird, wenn in den USA mal wieder ein Vollidiot sich oder andere verletzt hat und sich entschuldigt mit „ich dachte, die wäre nicht geladen“. Wir sind uns, denke ich einig, dass der Anfang mit „ich dachte“ schon gelogen war. Gedacht war da nichts. Bei solchen Menschen ist unklar, ob die überhaupt mal etwas von dieser Regel gehört haben, geschweige denn, ob sie sie dann verstanden hätten. Ob da die Formulierung einen Unterschied gemacht hätte? Ich meine nicht.
Aber schauen wir doch mal in die Welt. Wie machen es denn die anderen? Eine kurze Runde in meiner Buch- und Videosammlung und meinen Erinnerungen an Kurse ergibt folgendes: Frank Proctor lässt die Regel in seinen Briefings komplett raus. Magpul zu den Hochzeiten von Costa & Haley hatte die softe Variante „Treat every gun as if loaded“. Ebenso Gabe Suarez. Tom Givens geht noch weiter und sagt „Treat all guns as loaded unless you personally have made sure they are not“. Und selbst die NRA, sonst aus Angst vor Klagen auf der sicheren Seite, kennt diese Regel so nicht.
Das sollte zeigen, dass die Schießwelt sich da zumindest uneinig ist. Und selbst wer religiös dem Papst folgen will, sollte folgendes bedenken: 2003 hat Cooper seine Regeln noch mal überdacht. Was steht da als zweiter Satz nach „All guns are always loaded“? „Even if they are not, treat them as if they are“. Oha! Okays, im gleichen Artikel hat er dann gesagt, dass er schon immer recht hatte und die Regel doch original richtig war und was interessiert ihn sein Geschwätz von vor zwei Minuten? Inkonsistent. Aber auch da deckt sich sein Verhalten mit seinem Spitznamensvetter in Rom, also dem häufiger ausgewechselten Papst.
Was ist wirklich wichtig?
Das wirkliche Problem ist zweiteilig:
Wenn man eine Waffe von jemand anderem bekommt, weiß man nicht, in welchem Zustand die ist. Egal, was der andere sagt. Das Problem ist meiner Meinung nach ein soziales: Höflichkeit, wo Sachlichkeit angebracht ist („kann ich demjenigen jetzt öffentlich misstrauen?“) und, damit verbunden, ein Mangel an Eigenverantwortung („ach, wird schon stimmen“). Waffen sind gefährlich: Egal wie unerfahren man ist und wie erfahren der andere, das entbindet einen nicht von der Pflicht, den Kopf einzuschalten. Milgram und so.
Damit bleibt nur noch man selbst: Man kann sich des Ladezustandes seiner Waffe schlecht sicher sein, wenn man sie eine Weile nicht benutzt hat oder abgelenkt war. Kleine, unterbewusst ablaufende Aktionen vergisst man bekanntermaßen schnell: Haustürschlüssel einstecken oder irgendwo ablegen ist ein Favorit von mir. Nachladen ist so eine unbewußte Tätigkeit – darauf trainieren wir ja hin.
In beiden Fällen sollte die Reaktion aber die gleiche sein: Und wenn man etwas nicht weiß, ist es keine Schande, mal nachzugucken. (Zumindest rechtfertige ich so meine Vergesslichkeit.)
Für mich als Schütze bedeutet das „Prass check“ (ein Portmaneu aus „Brass check“ und „Press check“). Vor jedem Schießen, vor dem Wegpacken (was ja zeitlich immer etwas entfernt ist vom gemeinsamen Entladen auf Kursen).
Für mich als Ausbilder heißt das: Ich muss Leuten das Überprüfen des Ladezustandes beibringen. Das ist etwas, was meiner Erfahrung nach gerne auf Basis-Kursen unterschlagen wird. Dabei ist das für Anfänger gar nicht so einfach – man muss die Technik der eigenen Waffe schon verstanden haben, um nur auf den Ladezustand zu gucken und nicht aus Versehen durchzuladen. Außerdem bedeutet das: Nicht drängeln bei Übungen oder Szenarios. Wenn ein Schütze sich noch mal vergewissern will, dann wartet man mit dem Startsignal halt so lange.
Das ist weit wichtiger als der Streit über die Formulierung.
Fußnote: „Eine Waffe ist immer geladen“ hat auf meinen Veranstaltungen noch fordernde Bedeutung: Eine Waffe sollte immer geladen sein. Ungeladen ist sie nämlich keine vernünftige Waffe mehr, sondern ein ziemlich teurer, dummerweise meist etwas öliger Briefbeschwerer. Und falls jetzt jemand erwähnt, dass man Briefbeschwerer auch als Waffe benutzen kann, ist das zwar richtig, aber dann sind wir beim komplizierten Thema „Zweckbestimmung“, was uns bei Thema Messer sicherlich noch mal begegnen wird.