Jüngst wieder ein Mord an mehreren Personen. In diesem Fall an Gläubigen. In der seltenen Konstellation mit Schusswaffen. Und der erste Reflex des Waffenbesitzers ist natürlich zu denken „Oh, hoffentlich kein Legalwaffenbesitzer“. Tja, war es. Dann kommt statt rationaler Auseinandersetzung die Vermeidungs- und Verleugnungslawine.
Dieses Mal enttäuscht hat mich Pro Legal. Und das so sehr, dass ich mein Blog-Exil kurz aufgebe. Dass ProLegal so daher tönt ist traurig, weil ich die eigentlich seit Ewigkeiten unterstütze und im divide-et-impera-Miniversum der Deutschen Waffenbesitzer eigentlich in der richtigen Nische positioniert finde. Anyway, hier ist der Text dazu, meine Kurzfassung ist: Die Behörden sind schuld, das hätte vorher auffallen müssen.
Und das, an sich, ist ein legitimer Punkt: Wir haben schon alle Waffengesetze, die wir brauchen würden, um Menschen zu schützen. Wir wenden sie nur nicht an.
Ich halte diesen Punkt für wertvoll, das Problem dahinter aber etwas komplexer und systemisch tiefgehender. Der traditionell darauf folgende Ruf nach mehr Polizisten, Richtern, Sachbearbeitern oder, wenn jemand mal für zwei Sekunden nachdenkt, Sozialarbeitern, greift zu kurz.
Bleiben wir trotzdem mal bei dem Argument, dass alle Gesetze am Platze waren und ausgereicht hätten: Stimmt! Man darf Waffenbesitzern Waffen wegnehmen, wenn sie nicht zurechnungsfähig oder zuverlässig erscheinen. Schien der Täter das denn?
Fall-Zusammenfassung
Schauen wir uns den Fall an: Man tritt bei den Zeugen Jehovas aus und zerstreitet sich mit denen. Mann wird stante pede Mitglied im Schützenverein. Ein Jahr später erwirbt er seine erste Waffe, die spätere Tatwaffe. Er kauft dazu eine große Menge Magazine, die er im Tresor sammelt (erwähnt der Artikel explizit). Er verfasst ein Pamphlet „Die Warheit über Gott, Jesus und Satan“, wo er sich lobend über Hitler und Putin auslässt. Er fordert als Berater einen Tagessatz von 260.000 EUR (erwähnt der Artikel explizit). Er wird anonym denunziert ob seines angeblichen psychischen Zustands. Die Waffenbehörde führt eine unangekündigte Kontrolle durch. Sie moniert eine auf dem Waffenschrank stehende Patrone, belässt es aber bei einer Verwarnung. Und dann begeht er die Tat. Zwischen Erwerb der Waffe und Durchführung liegen etwa drei Monate.
Tjaaa, und da trällert dann triumphierend Reiner Assmann bei Pro Legal: Da hätte man die Waffen doch einziehen müssen! Seht her, die Gesetze waren da, die Behörden haben es vergeigt! Da wären ganz einfach Leben zu schützen gewesen!
Das sehe ich anders. Und ich mag einfach keine Leute, die es sich einfach machen, besonders auf meiner Seite.
Eindeutig, oder etwa nicht?
Sektenmitglied?
Fangen wir an: Bei den Zeugen Jehovas auszutreten ist definitiv keine Geisteskrankheit sondern eher ein Zeichen beginnender Gesundung.
Auf die sauer zu sein und sich zu zerstreiten, ist ein völlig menschlicher Prozess, der scherlich damit zu tun hat, das man viel Zeit seines Lebens auf etwas verschwendet, was einen nun abstößt.
Der gute Ausgang dieser Trennung wird sicherlich nicht begünstigt dadurch, dass jemand, der die Zeugen Jehovas verlässt, danach sozial komplett isoliert ist. Exkommunikation ist nicht umsonst die schwerste Strafe, die die kennen. Die reden dann nicht mehr mit dem und ignorieren ihn völlig. Und Religion ist eine dieser Krankheiten, die sich besonders gut in Familien verbreitet. Das heißt, so jemand verliert wirklich wichtige, nahe Kontakte.
Religiöser Eiferer?
Ein Pamphlet über die Wirklichkeit Gottes zu schreiben, also Gespenster unter anderem Namen zu sehen, ist sicherlich ein Zeichen einer Geisteskrankheit, aber einer, die zahlreiche Menschen teilen. Einige davon unterstützt unser Staat aktiv, indem er für sie Steuergelder sammelt. Für Jehovas Zeugen übrigens seit 20061. Ist also auch nichts bedenkliches.
Extremist?
Putin und Hitler toll zu finden, ist definitiv bedenklich. Aber unser Staat besteht an beiden politischen Flügeln aus solchen Leuten, wobei Putin oft ganz explizit im aktiven politischen Geschehen gut weg kommt; wir erinnern uns, Putin war alles von lupenreinem Demokraten bis „natürlich kein Europäer, aber der richtige mann für Russland“. Hitler schafft das nur bedingt, unter der Hand oder anhand seiner Programme2.
Wahnsinnig?
Einen Tagessatz von 260.000 EUR zu fordern, ist definitiv lächerlich. Oder ein Tippfehler. Oder Wahnsinn. Allerdings keiner, der in irgendeiner Form besonders wäre, wie mir ein Vierteljahrhundert in der Softwareindustrie in Zeiten von XING und LinkedIn gezeigt hat. Da fordert zwar niemand 260k EUR pro Tag, aber die Idee, mal mit einer Viertelmillionen in Vorleistung zu treten, weil der andere eine tolle Idee hatte, ist völlig üblich bei vielen der „Startup-Gründer“, die dann zwar keine Startups gründen, sondern rumweinen über die mangelnde Förderung in Deutschland.
Magazinhorter!
„Eine große Anzahl von Magazinen“ ist bekanntermaßen nicht verboten. bis vor ein paar Jahren musste man die nicht mal melden und die jetzige Regelung ist auch eher was, was nur überkorrekte Typen wie ich machen (beim Rest gehören die wem anderen in der Familie, denn das ist nicht meldepflichtig). Warum ProLegal damit daherkommt… pure Dummheit. Verrat an den eigenen Clienten. Ich persönlich habe genügend Magazine, um bei einem tpyischen Kurstag mit 500 Schuss nicht nachladen zu müssen, dafür ist mir der Kurs zu teuer.
Unzuverlässig?
Und der wichtigste Punkt: Eine Patrone, die bei der Aufbewahrungskontrolle gefunden wurde und die nur angemahnt wurde, ist für mich ein wunderbares Zeichen von vernünftigtem Nachdenken beim kontrollierenden Beamten. Seien wir ehrlich: Das kann passieren. Ich wittere jetzt schon die Legionen von Internetdebattierern, die diese eine Patrone schon beim Attentat auf Greta Thunberg (oder wer auch immer das aktuelle Mutter-Theresa-Equivalent ist3) die entscheidende Rolle spielen sehen. Aber wir Erwachsenen wissen: Steht ’ne Patrone auf dem Safe, die rein sollte: Passiert nichts. Sieht man beim nächsten Mal. Kommt dann rein. Gut ist. Einmal ermahnen, passiert dann nicht noch mal.
Ist die Erwartung realistisch, den Täter vorher aufzuhalten?
Langer Rede kurzer Sinn: Diesen Mann zu entwaffnen wäre so auch Kappes gewesen. Nicht mit diesen Informationen. Retrospektiv kann man da sicherlich einen roten Faden sehen. Aber wie Cäsar schon zynisch bemerkte: Die besten Auguren lesen aus den Eingeweiden der Vergangenheit. Mein Lateinlehrer war damals sehr angetan, als ich das übersetzt habe mit „Hinterher iss‘ immer einfach“.4
Nun mal anders ehrum gefragt: Wie hätte man den Mann denn kriegen können? Und: Hätte eine Entwaffnung etwas gebracht?
Wäre der Mann zu erkennen gewesen?
Wäre der Mann zu erkennen gewesen? Wie gesagt, retrospektiv klingt das ja ziemlich offensichtlich. Jemand, der gläubig war und dann komplett von seiner Glaubensgemeinschaft, also vermutlich seinem einzigen oder Hauptbezugssystem, ausgegrenzt wird, ist gefährdet für vieles. Normalerweise stehen da die extremistischen Religionen von Islam bis Scientology bereit, war in diesem Fall halt anders.
Jemand, der dieses Rauswurf als Affront sieht und daher ein fettes Manifest schreibt und das der Bibel gleichbedeutend sieht, ist vermutlich ein Narzist. Die kommen mit Kränkungen jetzt nicht gut klar.
Und wer jetzt die Alarmglocken angehen sieht, der möge, wie ich einfach die Meinung seiner in-house-Psychotherapeutin einholen (wie, Ihr habt keine? Einfach heiraten, hab’s ausprobiert, war gar nicht so schlimm) und sich wieder zurücklehnen: Davon gibt es Tausende in Deutschland und die tun nichts.
Eventuell hätte eine Psychotherapie was gebracht. Wissen wir nicht, vielleicht war der Täter ja sogar in Therapie, irgendwo muss dieser anonyme Brief ja herkommen. Aber Psychotherapie hat nur dann eine Chance auf Erfolg, wenn der Patient einen Leidensdruck verspürt und bei Narzisten tut das eher das Umfeld. Deswegen ist auch die Idee, Leute „mal zum Therapeuten zu schicken“, eine doofe.
Der Wert psychologischer Gutachten
Damit sei dann auch gleich der Idee vom psychologischen Gutachten der Wind aus den Segeln genommen: Ein Gutachten über eine Stunde ist wertlos. Also nicht für den Gutachter, der verdient daran exorbitant gut. Und wer (wie ich beim Blick über die Schulter meiner Frau) mal gesehen hat, wer so alles Gutachter ist und wie die arbeiten (oder sich gefragt hat, warum die nicht selbst als Therapeuten arbeiten), der möchte auch die Bewerung seines Geisteszustands nicht in die Hand der meisten Menschen dieser Art legen.
Aber viel wichtiger: Eine Therapie dauert irgendwo zwischen 25 und 300 Stunden5. Davon vergehen viele Stunden mit einfacher Vertrauensbildung zwischen Therapeut und Patient, sonst erzählt der oder die ja gar nichts. Das ist Welten entfernt von einem kurzen Gespräch, an dessen Ende ein Papier mit „zuverlässig“ oder „nicht zuverlässig“ steht.6
Für die zu schützende Allgemeinheit bringt ein Gutachten nichts. Aber es gibt definitiv eine Lobby, die diese Idee gut findet.
Schusswaffen wegnehmen und nichts passiert?
Jetzt die Frage: Hätte eine Entwaffnung etwas gebracht?
Das ist die spannendste Frage. Die Antwort aus dem Bauch bei einem Waffenbesitzer ist „nee, niemals, da hätte der einfach was anderes gemacht!“. Solange Alternativen vorhanden sind, würde ein Täter die nutzen.
Und das stimmt vermutlich. Wer die Lügenstatistiken vom Gräwe kennt, die so offensichtlich Selbstmorde und Morde mixen, weiß beispielsweise, dass sich Waffenbesitzer statistisch betrachtet viel häufiger erschießen als Leute, die sich nicht erschießen können. Klingt solange noch moderat interessant, bis man versteht, dass sie sich statisch betrachtet auch weniger Waffenbesitzer erhängen. Wer sich umbringen will, findet einen Weg. Aber das jetzt sofort zu verallgemeinern, finde ich falsch. Halten wir fest: Es dürfte für Selbstmord stimmen. Und denken wir weiter:
Wenn ich jemand gezielt ermorden wollte, wäre eine Schusswaffe schon bequem. Wir als Menschheit haben Schusswaffen ja schon aus gutem Grund erfunden. Aber meine Meinung ist: Niemand mordet, weil es bequem ist, und lässt es ansonsten sein. Affekttäter handeln, wie der Name schon sagt, im Affekt – deswegen bleibt das Küchenmesser auch Mordwaffe #1. Mörder planen einen Tod und sind flexibel in der Wahl der Mittel.
In diesem Fall hier reden wir aber nicht mal von einem Mord, im Sinne der gezielten Tötung einer Einzelperson. Deswegen mag ich „Massenmord“ als Begriff auch nicht, weil es impliziert, dass das einfach auf mehrere Personen skaliertes Morden ist. Da macht man es sich zu einfach und guckt auf die falschen Faktoren. Dann ist man überrascht, wenn mal wieder jemand einfach mit dem Auto in eine Menschenmenge fährt.
Mord an Gruppen geht auch ganz als ein Mord am Individuum: Wenn in China eine Gruppe Menschen den Staat stört, dann holen die auch nicht erst das selige QBZ-97 aus dem Schrank. Die warten auf eine Versammlung, keilen die Türen zu und verwerfen eine Brandbombe in den Raum. Weil’s einfacher und günstiger ist. Von Anders Breivig wissen wir genau, wie viele Alternativen der durchgeplant hatte und er hat sogar Bombe und Schusswaffe kombiniert.
Der langen Ausführung kurzer Sinn: Auch wenn man nicht verallgemeinern und von Selbstmord auf Mord und von Mord auf Massenmord schließen sollte: In allen Fällen gilt, dass der Täter nicht auf die Tat verzichten wird, weil man ihm oder ihr eine Möglichkeit von vielen wegnimmt.
So also nicht…
Alles zusammengefasst:
Der Täter war nicht vorher aufzufinden.
Der Täter war nicht durch die Behörden zu stoppen.
So ist das einfach. Alles andere ist Wunschdenken. Oder bedenkliches Träumen von einem Überwachungsstaat und da kann ich, als einer von denen, die ihn dann technisch umsetzen müssten, direkt entwarnen: Der wäre nicht besser. Auch nicht mit modernstem Machine-Learning, denn das funktioniert nicht mit dieser Art von Datenlage7. Der wäre nur teurer mit mehr false positives.
Okay, so alson nicht…Moment, Tobias! Erzählst Du uns jetzt kaltherzig was vom „Preis der Freiheit, den wir zahlen müssen“?
…wie denn dann?
Jupp. „Preis der Freiheit“, exakt das. Aber es ist faul, es dabei als Antwort zu belassen. Genau, wie es zynisch wäre, darauf hinzuweisen, dass eine allgemein bewaffnete Glaubensgemeinschaft sich vielleicht besser schützen könnte.
Ich habe die Hoffnung, dass wir eine bessere Gesellschaft werden, in der der Preis weniger oft bezahlt werden muss. Indem wir genügend freie Informationen zur Verfügung stellen, damit Leute sich nicht einer dämlichen Religionsgemeinschaft anhängen; indem wir alternative soziale Auffangnetze bieten, damit Menschen, die von solchen Gesellschaften ausgegrenzt werden, irgendwo landen können; indem wir Psychotherapie endlich das gleiche Ansehen verschaffen wie Fitnesstraining – Psychotherapie ist eine völlig normale Form der Krankheitsvorbeugung und -behandlung. Kann ja nicht sein, dass „ich kann nicht Fußball spielen, ich hab was am Kreuzband“ sozial akzeptiert ist, und „ich komme nicht aus dem Bett, ich hab Depression“ nicht.
Deswegen arbeite ich persönlich an kostenlosen Wissensdiensten und -plattformen, betreibe ehrenamtliche Tätigkeiten und spare mir hier den Witz, dass meine Frau mich gezwungen hat, was positives über Psychotherapie zu sagen.